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Chicagoer Stil

Rippl, Gabriele, Winko, Simone. 2025. "III.5.Kanon in der Lyrik." In Poetry in Notions. The Online Critical Compendium of Lyric Poetry, edited by Gustavo Guerrero, Ralph Müller, Antonio Rodiguez and Kirsten Stirling, .
 

Doi-Adresse

https://doi.org/10.51363/pin.jcvf
 

 iii...Distribution und Kommunikation

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Allgemeine Definition

 iii.5.1.Listen und Sammlungen der besten oder wichtigsten literarischen Texte stoßen auf ein anhaltendes Interesse innerhalb der Literaturwissenschaften und beim allgemeinen Lesepublikum. Denn sie bieten Orientierung in einem überwältigend breiten und ständig wachsenden Feld von National- und Weltliteraturen. Initiativen wie die ZEIT-Bibliothek der 100 Bücher (1978-1980) oder Sammlungen von spezifischer Genreliteratur wie die Süddeutsche Zeitung-Kriminalbibliothek (2006), The New York Times’ “What is the best Work of American Fiction of the Last 25 Years?” (2006), The Guardian’s “Hundred best Novels Written in English” (2015), Der Kanon. Die deutsche Literatur. Gedichte (2005, hg. Marcel Reich-Ranicki) oder Adam L. Gowans’s The Hundred Best Poems (Lyrical) in the English Language (erste Ausgabe 1903; das Buch wurde bis heute mehrmals wieder aufgelegt) belegen einen Wunsch, Leseempfehlungen anzubieten. Alle diese Initiativen haben etwas mit der Kanonisierung von Literatur zu tun: Selbst wenn sie selbst keine Kanones begründen, so beruhen sie doch auf Vorstellungen über kanonische Literatur. Kanones haben schon immer die Behandlung von Literatur durch Literaturkritiker:innen und -wissenschaftler:innen geprägt. Ein vertieftes literaturwissenschaftliches Interesse an den verschiedenen nationalen Geschichten der Kanonbildungen und die Problematisierung und Kritik an den Kanones selbst sowie ihrer Mechanismen und Auswahlkriterien begannen jedoch in den USA erst in den 1960er Jahren und in Europa in den 1970er und 1980er Jahren. Wie die wenigen einleitenden Beispiele zeigen, ist Lyrik in der öffentlichen Wahrnehmung des literarischen Feldes weniger präsent als Erzählungen. Dies entspricht einem Aufmerksamkeitsdefizit der historischen Kanonforschung: Sie hat sich hauptsächlich auf Prosa und Drama konzentriert.

 iii.5.2.Kanones sind das Ergebnis von komplexen Auswahl-, Wertungs-, und Deutungsprozessen, die sich je nach historischer Epoche und Kultur unterscheiden. Kanonisierungsinstanzen wie Schulen, Universitäten, Literaturpreise, Anthologien usw. sind an komplexen Auswahlprozessen beteiligt, die sich sowohl auf (normative) textliche/ästhetische Merkmale als auch auf kontextuelle Faktoren wie soziale und kulturelle Voraussetzungen zu einer bestimmten Zeit stützen (vgl. bspw. Heydebrand 1998, Herrmann 2007). Dies impliziert, dass Kanones formbar sind und sich im Laufe der Zeit verändern, was sowohl den materialen Kanon, d.h. die Texte und Autor:innen betrifft, die als kanonisch gelten, als auch den Deutungskanon, die mit den Texten verbunden Wahrnehmungs- und Interpretationsmuster (vgl. Heydebrand 1998, 613). Während manche Wissenschaftler:innen betonen, dass Kanones sich nicht intentional entwickeln (Winko 2002), sind andere an der Intentionalität mancher Auswahlprozesse interessiert (vgl. Rippl und Winko 2013). Wie andere literarische Gattungen wurde Lyrik im Laufe der Jahrhunderte unterschiedlich wertgeschätzt und bewertet. Erst seit dem Sturm und Drang, insbesondere seit der Erlebnislyrik, und der Romantik werden der Ausdruck von Gefühlen und Eindrücken eines lyrischen Subjekts als wichtigste Merkmale der Lyrik betrachtet, wobei diese ‘Gattungsmerkmale’ nicht mit den Auffassungen und Wertungen früherer Epochen übereinstimmen. Hierarchien innerhalb der Gattung Lyrik gab es schon immer, und sie spiegeln sich in Kanonisierungsprozessen zu verschiedenen Zeiten (Fowler 1979). Dieser Artikel konzentriert sich auf englisch- und deutschsprachige Lyrik und diskutiert Kanonisierungsprozesse ebenso wie die ihnen zugrundliegenden Annahmen in Verbindung mit Anthologien und universitären Curricula.

Historische Kontexte

 iii.5.3.Im Zusammenhang mit Kanondiskussionen sind zwei fundamentale Aspekte zu unterscheiden: erstens die historisch variierenden Motivationen, die zu Kanonbildungen führen, und zweitens Kanonisierungsinstanzen und materielle Manifestationen von Kanones wie Titel- oder Autor:innenlisten, Textkompilationen (etwa in Anthologien oder digitalen Corpora), Literaturgeschichten oder literarische Preise.

Variierende Motivationen von Kanonbildungen

 iii.5.4.Im englischen Sprachraum lassen sich an Tottel’s Miscellany (1557), die früheste, oder zumindest die früheste erhaltene, gedruckte Sammlung lyrischer Kurzgedichte, besonders gut die Werte ablesen, die frühen Kanonanstrengungen zugrunde liegen. Lyriksammlungen und -kanones der Vormoderne legen den Fokus häufig auf Sprachfertigkeit und haben Vorbildfunktion. Dagegen dient der englische Lyrikkanon seit dem 18. Jahrhundert einem zunehmenden Nationalbewusstsein und führt dazu, dass nicht nur Autoren der klassischen Antike, sondern vermehrt auch englische Schriftsteller:innen kanonfähig wurden, was sich zum Beispiel an Thomas Percys erfolgreicher Anthologie Reliques of Ancient English Poetry (1765) ablesen lässt (vgl. Korte 2000 für die Zusammenstellung wichtiger Lyrikanthologien englischer und britischer Lyrik von Tottel bis 1990). Auch in den Kolonien waren Anthologien wichtig, insbesondere im Zusammenhang mit Unabhängigkeitsbemühungen und nation building; ein Beispiel ist die kanadische Lyrikanthologie The Canadian Forget-Me-Not von 1837 sowie die Selections from Canadian Poets (1864). Weitere Motivationen für Kanonformierung können kulturelle und soziopolitische Faktoren sein. Während traditionelle literarische Kanones meist nationalen (zuweilen nationalistischen) Charakter haben und im Singular existieren, kommt es im Zuge der Gender-, Queer-, Race/Ethnie- und postkolonialen englischsprachigen Debatten der letzten vierzig Jahre vermehrt zu Kanonpluralisierungen, Kanonerweiterungen und der Bildung von Gegenkanones, die die bis dahin ausgeschlossenen literarischen Werke benachteiligter gesellschaftlicher Gruppen ins Rampenlicht rücken und Mechanismen der Inklusion und Exklusion sichtbar machen (Rippl und Straub 2013; Böhler 1998). Diese Diversifizierungen von Kanones betreffen auch die Lyrik (Schneider 2013, 289). In der deutschsprachigen Literatur werden diese Debatten ebenfalls geführt, wenn auch mit weniger Auswirkungen auf den materialen Kanon. Motivationen für Kanonbildungen sind nun auch, eine vollständigere und inkludierende Repräsentation des nationalen lyrischen Schaffens in all seinen Varianten und für die universitäre und schulische Lehre bereitzustellen.

 iii.5.5.Dass die variierenden Motivationen von Kanonbildungen auch zu historisch variablen Wertungsvorgängen und damit unterschiedlichen materialen Kanones führen, sei an wenigen Beispielen demonstriert. Ein eindrückliches Beispiel dafür sind die Dekanonisierungsprozesse einer Gruppe von amerikanischen Lyrikern, den sogenannten schoolroom poets oder fireside poets, die im 19. Jahrhundert an der Spitze des amerikanischen Kanons standen, deren äußerst hoher Kanonisierungsgrad sich jedoch mit dem beginnenden 20. Jahrhundert dramatisch verringerte. Zu den schoolroom poets gehörte der (auch in Großbritannien) außerordentlich populäre Henry Wadsworth Longfellow. Dies Dekanonisierungsprozesse lassen sich zum einen damit begründen, dass “die lyrische Gattung seit dem späten 19. Jh. generell deutlich an Popularität [verlor]” (Caupert 2013, 297), zum anderen stießen die Gedichte der schoolroom poets auf Kritik wegen ihrer “konventionellen Formen und oft weihevoll-besinnlichen, als übermäßig glättend und harmonisierend bewerteten Inhalten der vormals gefeierten Dichtergruppe” (Caupert 2013, 297). Als Beispiele für späte Kanonisierung gelten Emily Dickinson und Gertrude Stein. Eines der bekanntesten Beispiele aus dem deutschsprachigen Raum bietet Friedrich Hölderlin, der zunächst als minder wichtiger Autor galt und erst seit Beginn des 20. Jahrhunderts als kanonischer Lyriker etabliert wurde (vgl. Link 1998, 387f.).

 iii.5.6.Der Überblick über die Motivationen und die Beispiele für Kanonwandel machen deutlich, dass bei Kanonbildungen stets auch Wertvorstellungen eine grosse Rolle spielen (Heydebrand und Winko 1996). Dies wird auf verschiedene Weise in Kanontheorien reflektiert. Während formalistische und strukturalistische Kanonforscher:innen im 20. Jahrhundert dazu neigten, ästhetische “Texteigenschaften zum Maßstab der Wertung literarischer Artefakte zu nehmen” (Grübel 2013, 31; vgl. auch Freise 2013) und damit als Motivation für Kanoninklusion, unterstrichen sozialgeschichtliche, poststrukturalistische, feministische und postkoloniale Theorien des Werts und der Wertung die Rolle gesellschaftlicher Normen und ihre kontextbezogenen Modelle sahen Bildung, Ökonomie, Nation und Identität als wichtige Kanonisierungsfaktoren und -motivation (vgl.
Starre 2013). Im Zuge der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung seit den 1960er Jahren und des französischen Feminismus seit den 1980er Jahren wurde vermehrt Ideologiekritik betrieben, die ästhetische Normen, Werte und Wertungstheorien bezüglich ihrer blinden Flecken hinterfragte und gegen die Marginalisierung von Frauen und people of color kämpfte. Die mit der Kolonialismuskritik einhergehende Integration der postkolonialen Literatur und Lyrik in Curricula und Leselisten führte ebenfalls zu einer Auseinandersetzung mit literarisch-ästhetischen Werten und den Theorien, auf denen sie beruhen. Insbesondere die Debatten an britischen und US-amerikanischen Universitäten der 1980er und 1990er Jahre zeigen, dass sozio-kulturelle und politische Aspekte (Smith 1988; Guillory 1993) eine wichtige Rolle bei Wertungsvorgängen auch von Lyrik spielten, die das Verständnis von der Autonomie und Objektivität ästhetischer Werte ins Wanken brachten.

Kanonisierungsinstanzen und materielle Manifestationen von Kanones

 iii.5.7.Zu zentralen Kanonisierungsinstanzen von Lyrik – analog zur Literatur insgesamt – gehören das Verlagswesen und der Buchhandel, Print- und digitale Medien, das Rezensionswesen und die Literaturkritik, Literaturgeschichten, Anthologien, Editionen und schulische wie universitäre Curricula, literarische Museen und Gedenkstätten, Literaturhäuser, Lyrikpreise und -wettbewerbe sowie die Arbeit von Archiven, Bibliotheken und wissenschaftliche Lyrikförderung (vgl. Rippl und Winko 2013, 120–263; Lyrikkritik). Während Lyrik im Gattungssystem sowohl im deutsch- wie im englischsprachigen Bereich seit der Frühen Neuzeit als Gattung von höchster Relevanz und besonders ausgeprägtem symbolischen Wert betrachtet wird und in der Gattungshierarchie eine hohe Stellung einnimmt (unter Voraussetzung bestimmter poetologischer Annahmen kann sie sogar als ursprünglichste und wichtigste literarische Gattung gelten), zeigt sich spätestens seit der zweiten Hälfe des 20. Jahrhunderts, dass sich diese poetologische Wertschätzung nicht im Leseverhalten der Menschen widerspiegelt – auch wenn der Nobelpreis für Literatur an mehrere Lyriker:innen vergeben wurde, so etwa 1992 an Derek Walcott, 1995 an Seamus Heaney, 2009 an Herta Müller, 2016 an Bob Dylan (für seine lyrischen Songtexte) und 2020 an Louise Glück, und auch wenn die britischen poets laureates der letzten 40 Jahre – Ted Hughes, Andrew Motion, Carol Ann Duffy und Simon Armitage – eine wichtige Rolle im öffentlichen Leben des Vereinigten Königreichs einnehmen.

 iii.5.8.Im Folgenden soll der Fokus auf deutsch- und englischsprachige Anthologien und universitäre Curricula gelegt werden, denn neben den einflussreichen Literaturgeschichten (Jannidis 2013; Grabes 2013) spielen sie nicht nur eine tragende Rolle in Kanonisierungsprozessen, sondern es lassen sich an ihnen besonders deutlich nationale Kanongeschichten von Lyrik ablesen. Anthologien beruhen auf Inklusions- und Exklusionshandlungen, in denen neben ästhetischen Werten (die selbst schon an einem kulturellen Wertesystem partizipieren) auch andere kulturelle Werte (z.B. Nationalbewusstsein, Nationalliteratur) und Wertesysteme eine Rolle spielen (Korte, Schneider und Lethbridge 2000; Smith 1988). Das charakteristische Merkmal “von Anthologien ist […] die Selektion von Texten aus einem größeren Fundus und deren Neuzusammenstellung als kompakte Sammlung”, die aufgrund ihrer kostengünstigen Verfügbarkeit als Buch dann von Universitäten und Schulen “als Kanon legitimiert werden” (Lethbridge 2013, 179; Lethbridge 2014).

 iii.5.9.Anthologien ausgewählter Lyrikwerke einer Nation in der englischsprachigen Welt (z. B. The Oxford Anthology of English Poetry, 2003, The Penguin Anthology of Australian Poetry, 2009, die Norton Anthology of American Literature, 2017,sowie das Gegenprojekt The Heath Anthology of American Literature, 2002, oder die Columbia Anthology of American Poetry, 1995) oder literarischer Bewegungen (Ezra Pounds Des Imagistes
1914) und Gruppen, Metaphysical Lyrics and Poems of the Seventeenth-Century (1921), suggerieren Repräsentativität eines nationalen lyrischen/literarischen Schaffens und werden in der Lehre häufig verwendet. Allerdings wurden die Auswahlkriterien seit 1980er Jahren als Ausschlussmechanismen marginalisierter gesellschaftlicher Gruppen oder Ethnien (gender und race) kritisiert (so etwa An Anthology of American Literature, 1966, die nur sehr wenige afro-amerikanische Autoren berücksichtigte), was zu neuen Lyriksammlungen und Kanonpluralisierungen führte. Beispiele für korrektive Anthologien sind die Oxford Anthology of African-American Poetry (2005), Indivisible: An Anthology of Contemporary South Asian American Poetry (2010) oder When the Light of the World Was Subdued, Our Songs Came Through: A Norton Anthology of Native Nations Poetry (2020); Catherine Kerrigans An Anthology of Scottish Women Poets (1991), Shadowed Dreams: Women’s Poetry of the Harlem Renaissance (2006) oder Linda Frances Anthologie britischer und irischer Lyrikerinnen der 1970er-1990er Jahre, Sixty Women Poets (1993). Diese Beispiele für korrektive Unternehmen wirken der Untervertretung von Ethnien oder Lyriker:innen in Anthologien und damit den hegemonialen und institutionellen Machtpositionen entgegen (vgl. von Heydebrand und Winko 1996; vgl. Rippl und Straub 2013).

 iii.5.10.Festhalten lässt sich mit Blick auf deutsch- und englischsprachige Länder ein wichtiger Unterschied: Während literarische Anthologien im englischsprachigen Raum eine große Rolle spielen und universitäre Curricula und verbindliche, prüfungsrelevante Leselisten/reading lists prägen, trifft das für den deutschsprachigen Raum nicht im gleichen Ausmaß zu, wobei die Gründe nicht klar auf der Hand liegen. Auf der First-Year Reading List English des University College London für das akademische Jahr 2023–24 wird (wie schon in den Jahren zuvor) für die erfolgreiche Absolvierung von Literatur-Kursen explizit der Erwerb der Norton Anthology of Poetry empfohlen (https://www.ucl.ac.uk/english/sites/english/files/first-year_reading_list_2023-24.pdf). Auch an vielen deutschsprachigen Universitäten richten sich die prüfungsrelevanten Leselisten für Lyrik im Fach Englische und Amerikanische Literaturwissenschaft an der Norton Anthology of Poetry (in English), der Norton Anthology of American Literature, der Norton Anthology of English Literature oder Heath Anthology of American Literature aus.

 iii.5.11.Im deutschsprachigen Raum gilt als die erste Anthologie, die den Anspruch erhebt, die besten Gedichte zu versammeln, die von Julius Wilhelm Zincgref herausgegebene und als Anhang zu Opitz’ Gedichten erschienene Sammlung Mehr außerleßener geticht anderer / Teutschen Pöeten (1624). Der Neukirchschen Sammlung von Barockgedichten, die zwischen 1695 und 1727 in sieben Bänden erschien (Neukirch 1965), wird die Funktion zugeschrieben, durch Auswahl des Wertvollen sowohl musterbildend als auch identitätsstiftend zu wirken (vgl. Wiedemann 1970, 41). Seit dem 18. Jahrhundert nimmt die Anzahl der Lyrikanthologien stetig zu (vgl. den knappen Überblick bei Großens 2016, 301f.), und im 19. Jahrhundert wird diese Distributionsform zum auch kommerziell wichtigsten Medium der Vermittlung von Lyrik (vgl. Häntzschel 1997, 155–159), aber auch bereits Gegenstand der Kritik (vgl. exemplarisch Dembeck 2017, 145). Es herrschen zwei Typen vor: die Anthologie des Typs ‘Blütenlese’-Modell, die das Beste und Vorbildliche versammeln will, und die Anthologie nach dem Modell ‘Gesamtschau’, die dokumentieren will und Repräsentativität anstrebt (vgl. Pforte 1969, XXII, XXIVf.). Beide haben eine kanonisierende Wirkung in einem materialen Sinn, da sie aus einer großen Menge von Gedichten auswählen: die ‘besten’ oder die für eine Zeit, einen Kulturraum oder ein Thema ‘wichtigsten’ Texte. Weit verbreitete Lyrikanthologien des 19. Jahrhunderts sind Ernst Theodor Echtermayers Auswahl deutscher Gedichte für die untern und mittlern Classen gelehrter Schulen (1836, zahlreiche Auflagen bis 2010), Elise Polkos Dichtergrüße (1860, 15. Aufl. 1896) und Maximilian Berns Deutsche Lyrik seit Goethes Tode (1877, 18. Aufl. 1922). Die Wirkung dieser Anthologien – zum Teil über die schulische Vermittlung – auf die bildungsbürgerliche Auffassung von ‘guter Lyrik’ ist noch nicht hinreichend erforscht; ebenso wenig die Rolle, die sie als Bezugs- und Abgrenzungspunkt für zeitgenössische Autor:innen spielen. Einzelne Forschungen liegen vor (z.B. Paefgen 1990, Bark 1993), auch zur Rezeption zeitgenössischer Lyrik durch Komponist:innen, die Liedtexte aus Anthologien gewannen (zu Reger vgl. Popp 2014, 78f.). Bekannte Beispiele für das 20. Jahrhundert sind Kurt Pinthus’ Sammlung zeitgenössischer Gedichte Menschheitsdämmerung (1919, zahlreiche Auflagen
1959), die zum Synonym für expressionistische Lyrik wird, und Hans Magnus Enzensbergers Anthologie Museum der modernen Poesie (1960), die internationale moderne Lyrik in den deutschen Sprachraum vermittelte und deren Bild maßgeblich prägte.

 iii.5.12.In der heutigen universitären Ausbildung von Germanist:innen im deutschsprachigen Raum weicht die Praxis der Lyrikvermittlung von der Erzähl- und Dramenvermittlung ab (Stand 2024). Lyrikanthologien spielen keine prominente Rolle: Auf einigen Leselisten stehen empfohlene Einzeltitel von Gedichten oder Gedichtbänden, auf anderen generische Angaben nach dem Muster ‘Gedichte von Goethe’ und auf wieder anderen wird auf Anthologien verwiesen (vgl. Eckardt et al. 2024). In dieser Hinsicht unterscheidet sich die universitäre Kanonisierung von Lyrik deutlich von der von Prosa und Dramen, für die ausschließlich Einzelwerke ausschlaggebend sind. Die Liste der Lyrikanthologien, die Studierenden empfohlen werden, ist breit und zeigt an, dass es keine Einigkeit gibt: Kaum eine findet sich auf mehr als drei Listen (vgl. Eckardt et al. 2024, ausgewertet wurden 42 Leselisten deutschsprachiger Germanistikinstitute). Das gilt auch für solche Anthologien, die dezidiert für die Lehre an Schulen und Universitäten zusammengestellt wurden wie Deutsche Lyrik vom Barock bis zur Gegenwart (1980, diverse Auflagen), aber auch für populärer ausgerichtete Anthologien wie Das große deutsche Gedichtbuch (1977, verschiedene Ausgaben und mehrere Auflagen), Der Neue Conrady (2000) oder Reclams großes Buch der deutschen Gedichte (2007). Ebenfalls vereinzelt werden epochenspezifische, meist preiswerte Gedichtsammlungen angeführt, etwa Gedichte des Barock (1980) oder Gedichte der Romantik (1984). Auf Diversität ausgerichtete Lyrikanthologien finden sich auf den universitären Leselisten im deutschsprachigen Raum so gut wie gar nicht. Eine Ausnahme stellt die von Anna Bers herausgegebene Anthologie Frauen / Lyrik (2020) dar, die von Frauen verfasste Gedichte versammelt und die in zwei Lektürelisten aufgenommen wurde.

Gegenwärtige Praktiken, Debatten und Ansätze

 iii.5.13.Zeitgenössische Praktiken, Methoden und Debatten beziehen sich auf Kanonerweiterungen im Zusammenhang mit Medialisierung, Popularisierung, Digitalisierung und Transnationalisierung. Zu den wichtigen zeitgenössischen Methoden innerhalb der Kanonforschung gehören heute quantitative Methoden, d.h. der Einsatz großer Textkorpora, die mit maschinellen Verfahren analysiert werden, sowie die Auswertung von Daten aus dem Internet und den sozialen Medien, die Kanonisierungsmuster offenlegen können (Jannidis 2013, van Dalen-Oskam 2023). Mit Hilfe dieser Digital Humanities-Methoden lassen sich Hypothesen der traditionellen Kanonforschung prüfen und differenzieren, etwa zum Einfluss des wahrgenommenen Autor:innen-Geschlechts auf die Zuschreibung von literarischer Qualität (Koolen 2018), zur Zirkulation von Texten und zur Leserschaft anglophoner postkolonialer Literatur und Weltliteratur oder Texten, die in übersetzter Form (Walkowitz 2015) rezipiert werden. Auch Google Trends und Google Books Ngram erlauben den Zugriff auf große Datenmengen und indizieren den Einfluss von Autor:innen (Thomsen 2017, 2020).

 iii.5.14.Debatten zu Transnationalisierungsüberlegungen (Hitchcock 2020) finden im Zusammenhang mit Weltliteraturkanones und kosmopolitischen Kanones (Damrosch 2006; Schoene 2013) statt. Thomsen (2008) beschreibt, wie der postkoloniale Gegenkanon (Madsen 1999) im Kanon der Weltliteratur aufging. In gegenwärtigen Debatten zur Weltliteratur werden Wertungsprozesse und daraus resultierende Kanonverschiebungen nicht mehr in erster Linie unter ästhetischen Innovationsaspekten oder dem Universalitätscharakter von Werken geführt, sondern vermehrt im Zusammenhang mit sozio-kulturellen und politischen Überlegungen zur Zirkulation, Rezeption und Übersetzungspolitik von Werken. Mit Blick auf Weltliteratur wird häufig auf die marktbeherrschende Rolle der englischen Sprache (Walkowitz 2015; Mufti 2016; Helgesson und Vermeulen 2016) und auf neoliberale Wirtschaftsinteressen verwiesen, welche die globale Zirkulation literarischer Werke weitgehend bestimmen. Medien-Korporationen wie Netflix, Amazon, Google und Hulu beherrschen den globalen spätkapitalistischen Markt des 21. Jahrhunderts mit ihren Algorithmen und AI-Marketingstrategien, was vermutlich auch Auswirkungen auf das Leseverhalten und die Distribution von symbolischem Kapital und kulturellem Prestige von Lyrik hat.

 iii.5.15.Neben den Kanonerweiterungen oder Neuformierungen von Kanones gibt es vermehrt Überlegungen zu Medialisierungs- und Popularisierungsprozessen: “Medialisierungen und intermediale Transfers sind zentrale Faktoren der Kanonbildung der britischen Literatur, deren Geschichte heute nicht mehr ohne Verweis auf die Medienwelt erzählt werden kann”, so Schneider (2013, 294; vgl. auch Schneider 2012). Aufgrund von Biopics von Lyriker:innen wie z.B. Sylvia Plath (Sylvia, 2003, Regie Christine Jeffs) und Adaptionen literarischer Werke in anderen Medien, z.B. durch den Film sowie Video- und Streaming-Serien (Netflix, Prime, etc.) oder durch Comics und Graphic Novels, kommt es zu Popularisierungsschüben. Medialisierung war jedoch bereits ein wichtiger Aspekt bei historischen Kanonisierungsprozessen von Lyrik, etwa von mittelalterlichen englischen Volksballaden (Verschriftlichung) oder der Gedichte von Anne Bradstreet, die im 17. Jahrhundert im puritanischen Neuengland verfasst und in London publiziert wurden (Buchdruck). In der Gegenwart spielen vermehrt performative Formate wie Slam Poetry und digitale Formate eine Rolle. Es liegen erste Arbeiten zum Wertungsverhalten des Publikums von Poetry Slams vor, das sich von traditionelleren Lyrikleser:innen unterscheidet (vgl. Ditschke 2022). Auch die Präsenz von Gedichten im Internet und auf digitalen Literatur-Portalen dürfte für die Kanonisierung von Lyrik der Gegenwart eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen. Ein gutes Beispiel liefert die Internetseite “Best Poetry Anthologies (180 books): the best, most comprehensive and or entertaining anthologies of verse in English” (https://www.goodreads.com/list/show/15504.Best_poetry_Anthologies, besucht am 11.2.2024). Eine Initiative zur Aufwertung der Gattung Lyrik stellt das seit 2018 arbeitende Netzwerk Lyrik dar (https://www.netzwerk-lyrik.org/lyriklandschaft/orte/digitiale-plattformen.html, 25.2.2024). Ein weiteres Beispiel ist Amanda Gormans Gedicht “The Hill We Climb”, das sie 2021 bei der Amtseinführung von Joe Biden zum 46. Präsidenten der USA vortrug. Es wurde schnell in Curricula von Universitäten und Schulen aufgenommen und gewann große Bekanntheit, nicht nur wegen des beeindruckenden Auftritts der jungen Lyrikerin, sondern auch aufgrund seiner Verfügbarkeit auf den Internetportalen der großen amerikanischen Fernsehstationen und auf zahlreichen literarischen Websites wie LitCharts.com. Unter bestimmten Bedingungen ist das eine gute Ausgangsposition für das Gedicht, Kanonstatus zu erhalten.

Forschungsdesiderata

 iii.5.16.Neue Entwicklungen und Debatten im Bereich Lyrikanthologien drehen sich derzeit um wichtige Themen der Gegenwart wie das Anthropozän, die Covid-Pandemie oder Queerness: The Ecopoetry Anthology (2013), Queer Nature. A Poetry Anthology (hg. von Michael Walsh, 2022, eine Anthologie, die Naturlyrik von LGBTQIA+ Stimmen der Gegenwart sammelt), Poetry and Covid-19: An Anthology of Contemporary International and Collaborative Poetry (2021), Singing in the Dark: A Global Anthology of Poetry Under Lockdown (2020) oder And We Came Outside and Saw the Stars Again: Writers from Around the World on the Covid-19 Pandemic (2020). Allerdings wird man erst in einigen Jahren beurteilen können, ob sich hier Kanonisierungstrends abzeichnen und man von Formierungen neuer Subkanones von Lyrik sprechen kann.

 iii.5.17.Mehr wissenschaftliche Aufmerksamkeit von Kanonforscher:innen dürften auch die Bereiche slam poetry/spoken poetry sowie e-poetry/digital poetry/electronic poetry erfahren (bei letzterer ergeben sich wichtige Fragen hinsichtlich des Zusammenhangs von Speicherkapazität, digitaler Archivierung/Repositorien und Kanonisierungsprozessen).

 iii.5.18.Insgesamt ist festzustellen, dass die Kanonisierung von Lyrik im Allgemeinen und Lyric Poetry im Besonderen noch nicht gut erforscht ist. Es fehlen materialgestützte Analysen langfristiger Entwicklungen der Gattungskanonisierung wie auch eingehende Studien zu den Kanon-Positionen einzelner Lyriker:innen und ihrer Genese. Auch die naheliegende Annahme, dass gerade Lyrik über den Autor:innen-Namen kanonisiert, d.h. im Rahmen des Gesamtwerks einer kanonischen Autorin bzw. eines kanonischen Autors mit tradiert wird, müsste überprüft werden.

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Rippl, Gabriele, und Simone Winko. 2025. "III.5. Canons of Lyric Poetry." In Poetry in Notions. Online-Glossar der Lyriktheorie, herausgegeben von Gustavo Guerrero, Ralph Müller, Antonio Rodriguez und Kirsten Stirling. DOI: https://doi.org/10.51363/pin.jcvf.